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„Nackt unter Wölfen“ - Der Held von der Kleiderkammer
Willi Bleicher 1945Von Hermann G. Abmayr - Stuttgarter Zeitung - 01. April 2015 - 10:46 Uhr
Ein viertel Jahrhundert nach der Wende hat die ARD den DDR-Roman „Nackt unter Wölfen“, der die Rettung eines Jungen im KZ Buchenwald beschreibt, jetzt neu verfilmt. Das Vorbild für die Figur des Kapo Höfel war Willi Bleicher.

Stuttgart - Tausende Häftlinge sind bereits durch das Kammergebäude des Konzentrationslagers gegangen, mussten sich ausziehen, sich desinfizieren, die Haare scheren lassen und ihre Habseligkeiten abgeben. Plötzlich steht vor Willi Bleicher ein dreijähriger Knabe. Mit großen Augen schaut er den damals 36-Jährigen an. „Hilflos und gleichsam Hilfe suchend klammerte er sich an seinen Vater“, berichtet der aus Stuttgart stammende KZ-Häftling später. So beginnt eine Geschichte, die noch Millionen Menschen beschäftigten wird, die Geschichte des „Kindes von Buchenwald“.

In der DDR wird ein Roman erscheinen, „Nackt unter Wölfen“, der den Stoff fiktiv bearbeitet, 1963 verfilmt unter der Regie von Frank Beyer. Die Rettung des Kindes wird zur Metapher für Menschlichkeit unter barbarischen Lebensbedingungen. Der Mensch ist zu größter Grausamkeit und größter Empathie fähig. Das ist der tiefe Kern des Werkes von Bruno Apitz, der selbst acht Jahre Konzentrationslager Buchenwald überlebte. Lange Zeit und teils bis heute gelten der Roman und die Defa-Verfilmung im Westen als Machwerk der SED-Propaganda, plumpe Verherrlichung des kommunistischen Widerstands oder „Kitsch“. So dauerte es nach der Wende 25 Jahre, bis die ARD den Stoff für eine Neuverfilmung entdeckt hat. Sie wird am Mittwoch zur besten Sendezeit ausgestrahlt. Die Rolle des Kapos im Kammergebäude spielt jetzt Peter Schneider, im Defa-Film von 1963 spielte ihn Armin Müller-Stahl. Im wahren Leben war es der Stuttgarter Willi Bleicher.

1936: Die geheime Staatspolizei verhaftet Willi Bleicher auf dem Daimler-Gelände in Untertürkheim, wo er für eine Baufirma gearbeitet hat. Er wird wegen ­Vorbereitung zum Hochverrat zu zwei Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Nachdem er die Strafe abgesessen hat, kommt er in „Schutzhaft“ nach Buchenwald bei Weimar, wo ihn die SS nach einigen Monaten zur Arbeit in das Kammergebäude schickt, auch Effektenkammer genannt, weil dort die bewegliche Habe der Gefangenen aufbewahrt wird. Später übernimmt Willi Bleicher schließlich die Leitung des Kommandos und wird sogenannter Häftlingskapo.

Ein „Gerechter unter den Völkern“

Aufschluss über die Rettung des „Kindes von Buchenwald“ gibt neben den Aussagen von Zeitzeugen vor allem der Bericht des Vaters Zacharias Zweig, den der Rechtsanwalt aus Krakau 1961 Yad Vashem gegeben hat. Die Gedenkstätte in Jerusalem erklärt Willi Bleicher vier Jahre später wegen seines Einsatzes für Zweig zum „Gerechten unter den Völkern“.

Im Gegensatz zur fiktiven Geschichte in „Nackt unter Wölfen“ kommen Zacharias und Stefan Jerzy Zweig nicht 1945 in Buchenwald an, sondern bereits am 5. August 1944. Bei großer Hitze sei man mit einer Gruppe jüdischer Polen vom Bahnhof aus zu Fuß ins Lager gegangen, schreibt Zacharias Zweig. Er habe zwar beabsichtigt, das Kind im Rucksack zu verstecken, doch er habe „es ganz einfach nicht geschafft“. Der dreijährige Junge „mit platinblonden Haaren und blauen Augen“, der zuvor bereits in anderen Lagern war, gilt in Buchenwald als Sensation, oft hatten die Häftlinge seit Jahren keine Kleinkinder mehr gesehen.

Wenn das Leben des Kindes bisher gerettet worden war, so sagen sich Bleicher und andere Funktionshäftlinge in der Effektenkammer, dann sei das ein Symbol des Widerstandes gegen Hitler. Es habe verdient, geschützt zu werden – denn solch „unnütze Esser“ wie ein Kleinkind sind im Lager hochgefährdet. Bleicher und seine „Kumpels“ bringen „Juschu“, wie sie Stefan liebevoll nennen, im Block der deutschen politischen Häftlinge unter, lassen ihm Kleidung, Schuhe und Spielzeug fertigen. Das Kind hat eine Häftlingsnummer und muss beim Zählappell antreten. Der Vater kann es zunächst jeden Sonntag besuchen.

Als Stefan im September krank wird, droht Gefahr. Bleicher sorgt dafür, dass der Kleine versteckt und von einem Häftlingsarzt behandelt wird. Doch Ende des Monats scheint alles vorbei zu sein. Die SS besteht darauf, dass „Juschu“ auf eine Deportationsliste und ins Vernichtungslager Auschwitz kommt. Alle Versuche, dies zu verhindern, scheitern. Um zehn Uhr soll der Bub der SS übergeben werden. Zacharias Zweig bittet, sein Söhnchen begleiten zu dürfen. Abgelehnt, denn der Transport sei nur für Minderjährige, sagt die SS.

Willi Bleicher ist verzweifelt. Er weint und stößt alle Flüche aus, die sein schwäbischer Wortschatz zur Verfügung hat. Eine halbe Stunde vor der Abfahrt finden „Juschus“ Beschützer dann doch noch eine Lösung. Zacharias Zweig bringt den Bub in das Krankenrevier, wo er eine Spritze bekommt, die hohes Fieber auslöst. Damit ist er transportunfähig.

Triumpf der einfachen Menschlichkeit

Die Rettung des Kindes ist unter den politischen Gefangenen in Buchenwald von Anfang an heftig umstritten. Sie hatten – von der SS unbemerkt – eine Widerstandsorganisation aufgebaut, um ihr Leben erträglicher zu gestalten und sich irgendwann nach Möglichkeit zu befreien. Es gelang ihnen sogar, Waffen zu verstecken. „Wir haben viele Diskussionen darüber gehabt im engeren Kreis“, erklärt Willi Bleicher später. Wenn die SS die Gruppe enttarnt hätte, wäre „einiges an illegaler Konspiration und Arbeit“ aufgeflogen.

Dies ist auch der Grundkonflikt im Roman „Nackt unter Wölfen“. Da die Existenz des verborgenen Kindes die Arbeit der Widerstandsgruppen gefährdet, muss das illegale Lagerkomitee der politischen, meist kommunistischen Gefangenen über sein weiteres Schicksal entscheiden. Zunächst beschließt man, das Kind schleunigst aus dem Lager zu schaffen. Aber André Höfel, der Kapo der Effektenkammer, weigert sich. Ihm wird deswegen „Disziplinbruch“ vorgeworfen. Er gibt zu, „schuldig an der Partei“ zu sein und rechtfertigt sich mit den Worten: „Ich konnte nicht anders.“ Die politischen Häftlinge entscheiden sich schließlich für das Kind.

Marcel Reich-Ranicki attestiert der Geschichte schon Anfang der 60er Jahre und trotz Kaltem Krieg einen tiefen humanen Kern. „In ‚Nackt unter Wölfen‘ triumphiert die einfache Menschlichkeit“, schreibt der Literaturkritiker. Tatsächlich ignorierten die Helden des Romans nicht nur die Regeln des Widerstandskampfes, sondern auch die Grundsätze ihrer Partei. Zwar kritisiert Reich-Ranicki den „etwas rührseligen Hauptkonflikt“ und die „Schwarz-Weiß-Malerei“, doch für ihn ist der Roman ein „ehrliches Kampfbuch gegen den Faschismus“, ein „Preislied auf die Güte der Herzenswärme“. Und so erklärt sich Reich-Ranicki den schon damals großen Erfolg des Buchs: „In einem Land, in dem ein Lied gesungen wird, das mit den Worten beginnt: ‚Die Partei, die Partei, die hat immer recht‘, ist man für einen Roman dankbar, der eine Aktion rühmt, die möglich wurde, weil eine Genosse sich der Partei widersetzt hat.“

Apitz und Zweig
Bruno Apitz (l.) mit Stefan Jerzy Zweig
Photographie Buchenwald, 1964 DHM, Berlin F 66/1192

Was der Kritiker damals nicht wissen konnte, ist die reale Geschichte, auf die sich der Roman bezog. Er wusste auch nicht, dass Bruno Apitz den Stoff in der DDR Jahre lange vergeblich angeboten hatte und dass das Vorbild für die Figur des Kapos Höfel der Häftlingsbekleidungskammer Willi Bleicher war.

Ein Mann, der in der DDR als Verräter galt, weil er 1950 in Stuttgart aus der KPD austrat und vier Jahre später, wenn auch mit wenig Begeisterung, SPD-Mitglied wurde. Zudem hatte die KPD Willi Bleicher schon einmal ausgeschlossen. Das war 1929, der Jungkommunist hatte damals die antistalinistische Opposition um Heinrich Brandler und August Thalheimer innerhalb der Partei unterstützt.

Den Namen Bleicher sollten die DDR-Leser nicht erfahren

Bruno Apitz war zwar „überzeugter Kommunist“, so Lars Förster in seiner jüngst erschienenen Biografie, aber „wohl kein strom­linienförmiger SED-Unterstützer“. Sein Buchenwald-Projekt fällt in eine Zeit, in der es in der DDR fürchterliche Machtkämpfe gab. Die Ulbricht-Gruppe, die aus dem Moskauer Exil kam, entmachtet die „Buchenwald-Fraktion“. Auch frühere „Kumpels“ von Willi Bleicher, die sich im Lager für mehr Menschlichkeit eingesetzt hatten, werden Opfer dieser Auseinandersetzung. Trotzdem macht Bruno Apitz den Kapo der Effektenkammer zu einem der Hauptprotagonisten seines Romans. Den Namen Willi Bleicher sollen die DDR-Leser aber lieber nicht erfahren. Im Gegensatz dazu inszenieren die ostdeutschen Medien einen großen Rummel, als das „Kind von Buchenwald“ 1964 gefunden wird und in die DDR kommt.

Zuvor hatte Stefan Jerzy Zweig, der Junge von Buchenwald, Willi Bleicher in Stuttgart besucht. Sein Vater hatte ihm immer wieder von dem Mann berichtet. Willi Bleicher war damals Chef der IG Metall in Baden-Württemberg, hatte gerade den ersten großen Arbeitskampf mit Streik und Aussperrung hinter sich, wurde wegen seiner kommunistischen Vergangenheit angegriffen. Sein Gegenspieler beim Verband der Metallindustrie war der Daimler-Manager Hanns Martin Schleyer. Er war schon früh ein überzeugter Nationalsozialist gewesen und hatte es bis zum SS-Untersturmführer gebracht. Doch beide mussten Tarifverhandlungen führen.

Willi Bleichers Engagement in Buchenwald wird erst mit dem Besuch von Stefan Jerzy Zweig in Stuttgart einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Davor wollte der ehemalige „Buchenwälder“ nicht über seine Zeit im KZ reden, weil er den Eindruck hatte, dass man ihm das nicht glauben würde. Die Belastung wäre aber wohl auch zu groß gewesen, denn Bleicher plagten immer wieder Albträume.

Zusammen mit dem damals 23-jährigen Stefan Jerzy Zweig fährt Willi Bleicher 1964 nach Buchenwald, wo sie auch Bruno Apitz treffen. Jerzy „Juschu“ Zweig sieht dort zum ersten Mal „Nackt unter Wölfen“.

 

Der fromme Kommunist
Gezeichnet vom KZ, beteiligt am deutschen Wiederaußau,
angetrieben von der Hoffnung: der Stuttgarter Arbeiterführer Willi Bleicher

Stuttgarter Zeitung vom 27.10.2007Willi Bleicher 1945


Von Hermann G. Abmayr

Heute vor hundert Jahren ist Willi Bleicher in Cannstatt geboren worden. Der Gewerkschafter war zugleich pragmatischer Verhandlungsführer wie den Idealen des Sozialismus verpflichtet. Seine Hoffnungen im Nachkriegsdeutschland galten einer anderen, besseren Welt. Unser Autor hat bereits eine Biografie über den Arbeiterführer geschrieben. Nun ist er bei Recherchen für seinen neuen Film über Bleicher auf unbekannte Dokumente in früheren DDR-Archiven gestoßen.

„Es kommt nicht darauf an, ob wir in dieser Welt leben, viel wesentlicher ist es, dass wir diese Welt lebenswerter gestalten", sagt Willi Bleicher. Und dann hebt er seinen rechten Zeigefinger und wiederholt langsam die Worte „lebenswerter" - Pause - „gestalten". Das war 1980, als der 73-Jährige vor überwiegend jungen Leuten über seine Zeit im Konzentrationslager Buchenwald berichtete - ein Jahr vor seinem Tod.

Als Daimler die Arbeiter nach einem Streik 1920 aussperrt, wissen Willi Bleichers Eltern nicht, wie sie ihre Kinder ernähren sollen. Die Mutter geht ins Pfandhaus, der dreizehnjährige Willi klaut Obst für die Familie und Klee für die Stallhasen. Diese Erfahrungen haben mit zu Bleichers Politisierung beigetragen. Er träumt von einer Welt ohne Hunger, Arbeitslosigkeit und Willkür, schließt sich der kommunistischen Jugend und der Gewerkschaft an. Zunächst übrigens der Gewerkschaft der Nahrungs- und Genussmittelarbeiter, denn Bleicher war gelernter Bäcker, auch wenn bis heute die Legende verbreitet wird, er habe bei Daimler eine Schlosserlehre gemacht.

1963 steht die Metallindustrie im Südwesten vor dem bis dahin heftigsten Arbeitskampf der jungen Bundesrepublik. Willi Bleicher, inzwischen Leiter der IG Metall Baden-Württemberg, erinnert sich an die Aussperrung 23 Jahre zuvor. Er zögert, denn für ihn sind Streiks das letzte Mittel im Arbeitskampf: „Ich wusste, was Streik bedeutet", erzählt er später. „Streik bedeutet zuweilen Verlust des Arbeitsplatzes, Streik bedeutet Bangigkeit und das unentwegte Fragen. Was wird am Ende des Streiks stehen? Bevor ich dieses Wort aussprach, habe ich mich deshalb immer in Hunderten von Versammlungen und Zusammenkünften vergewissert, ob wir es wagen können."

Als Bleicher dem Verband der Metallindustrie dann tatsächlich mit einem Streik droht, wird er öffentlich wegen seiner kommunistischen Vergangenheit angegriffen. Kein Wort darüber, dass ihn die SS im Lager fürchterlich behandelte, dass er Folter und auch einen Todesmarsch im April 1945 beinahe nicht überlebt hätte.

Es herrscht Kalter Krieg in Deutschland. Wer Kommunist war oder ist, kann überwacht werden (auch für Bleicher interessiert sich der Verfassungsschutz), er kann seinen Arbeitsplatz verlieren oder wegen Verstoßes gegen das Verbot der kommunistischen Partei zu einer Gefängnisstrafe verurteilt werden. Über die Taten der Nazis wird dagegen geschwiegen. Viele haben wieder Karriere gemacht. Einer davon sitzt Willi Bleicher bei den Tarifverhandlungen gegenüber: Hanns-Martin Schleyer. „Sie waren beide durch Gottes Zorn oder durch menschliches Schicksal gezwungen, miteinander auszukommen und Kompromisse zu schließen." So Franz Steinkühler, Bleichers langjährige „rechte Hand" in der Stuttgarter Bezirksleitung.

Beide, Bleicher wie Schleyer, pflegen einen autoritären Stil

Dabei haben Bleicher und Schleyer auch Gemeinsamkeiten: Beide wollen „ihren Laden" im Griff haben, beide pflegen einen zum Teil extrem autoritären Führungsstil, und beide zeigen sich nach außen als harte Kämpfer, was Schleyer zum Inbegriff des „bösen Kapitalisten" macht. Doch die beiden Raucher können auch warmherzig sein und Nettigkeiten austauschen. Wenn Schleyer zu Bleicher zum Vieraugengespräch kommt, lässt das ehemalige SS-Opfer dem ehemaligen SS-Offizier eine Schachtel „Simon Arzt Orient" bereitstellen, Schleyers Zigarettenmarke. Und obwohl der Gewerkschafter seine Tarifkontrahenten schrecklich attackieren kann, lehnt er es immer ab, Schleyers Vergangenheit im Arbeitskampf auszuschlachten.

Hanns-Martin Schleyer war ein „in der Wolle gefärbter Nazi" (Edzard Reuter) und überzeugter Antisemit. In der NS-Zeit arbeitete er zuletzt als Leiter des Präsidialbüros des Zentralverbands der Industrie im besetzten Prag. Der Verband war unter anderem für die Arisierung der tschechischen Wirtschaft und die Beschaffung von Arbeitkräften für Nazideutschland zuständig. Nach dem Krieg ist Schleyer zwar mehrere Jahre interniert, doch seine Vergangenheit interessiert in der Zeit des Wirtschaftsaufswunders nur wenige. Er selbst fühlt sich als Opfer der „Siegerjustiz" und schweigt.

Weil sich die alten Machtstrukturen nicht geändert hätten, will sich Willi Bleicher mit dem Nachkriegsdeutschland unter Adenauer nie anfreunden. Er traut der jungen Republik nicht, denn in den Betrieben haben meist wieder die alten Eigentümer das Sagen. Sie und ihre Manager macht Bleicher für das Erstarken des Hitlerfaschismus mitverantwortlich. Er kritisiert die alten NS-Seilschaf-ten, die wieder an wichtigen Positionen sitzen. Hanns-Martin Schleyer ist mit der Nachkriegsrepublik aus anderen Gründen nicht einverstanden. Er beklagt die mangelnde unternehmerische Freiheit und sieht noch in den siebziger Jahren in der Mitbestimmung ein kommunistisches Machwerk. „Unternehmen heilst Führen", das ist seine Maxime. Schleyer selbst zählt sich zur Führungselite. Dies will er Anfang der sechziger Jahre endlich unter Beweis stellen.

Nach der Lohnrunde 1962 bereitet Schleyer den Verband der Metallindustrie systematisch auf eine Aussperrung vor. Das ist damals keine Selbstverständlichkeit. Viele Unternehmer zögern. Sie wollen das Betriebsklima nicht vergiften oder fürchten, Arbeitskräfte zu verlieren, die bei der herrschenden Vollbeschäftigung nicht leicht ersetzt werden können. Schon zwei Tage nach Streikbeginn werden alle Arbeiter in Betrieben mit über hundert Beschäftigten ausgesperrt. Bleicher ist empört: „Der Dr. Schleyer hat recht, wenn er von einer Totalaussperrung spricht. Es ist ein totaler Krieg gegen die Metaller dieses Landes. Er ist so erbarmungslos wie jener, den diese Herren verloren haben."

Ergebnis: der „General-Hinauswurf", so der „Spiegel" damals, habe „das Nachkriegskapitel leichter Gewerkschaftssiege" beendet. Schleyer, den die Presse zu den „zornigen jungen Männern in den Arbeitgeberverbänden" zählt, wird bundesweit zum Hoffnungsträger im Unternehmerlager. Die Hauptaktionäre von Daimler belohnen ihn, indem sie aus dem stellvertretenden ein ordentliches Vorstandsmitglied machen. Und Willi Bleicher steigt zum „wohl härtesten und radikalsten Funktionär der IG Metall" auf. Dazu adelt ihn die „Frankfurter Allgemeine Zeitung".

Doch weder in der Öffentlichkeit, noch in der Gewerkschaft selbst sind Bleichers KZ-Jahre bekannt. Nach seinen schlechten Erfahrungen in der Nachkriegszeit lehnt er es ab, über diese Zeit zu sprechen. Damals habe man ihm nicht geglaubt, als er über den Terror im Lager berichtet hat, einige hätten sogar gelacht. Zudem will sich Bleicher nicht mit den alten Erinnerungen quälen. Die nächtlichen Albträume sind schlimm genug.

In der Öffentlichkeit spielt die KZ-Vergangenheit keine Rolle

Und es gibt noch ein politisches Kalkül. Bleicher wurde ins KZ gesteckt, weil er ein kommunistischer Widerstandskämpfer war. In der jungen Bundesrepublik gilt er deshalb allenfalls als Nazigegner dritter Klasse. Selbst in der IG Metall führt seine kommunistische Gesinnung dazu, dass er 1950 aus dem Vorstand hinausgedrängt wird.

Kurz nach dem Streik 1963 rückt die KZ-Vergangenheit des Metallers erstmals ins Licht der Öffentlichkeit. Er wird als Retter des „Kindes von Buchenwald" bekannt. Der DDR-Autor Bruno Apitz, selbst langjähriger Häftling, hat die Geschichte in dem Roman „Nackt unter Wölfen" verarbeitet. Eine fiktive Handlung, wie man damals meint, in der Häftlinge ein dreijähriges Kind vor der SS verstecken und so vor dem Tode bewahren. Der Regisseur Frank Beyer verfilmt den Stoff 1963 für die Defa. Armin Müller-Stahl spielt den Kapo der Effektenkammer, jene Funktion, die Willi Bleicher in Buchenwald innehatte. Ohne Bleicher wäre das Kind jüdischer Eltern aus Krakau im KZ „nackt unter Wölfen" geblieben und hätte kaum überlebt. Das ist der wahre Kern des Romans. Als Bleicher erfährt, dass man Zweigs Adresse gefunden hat, lädt er das inzwischen 22-jährige „Kind von Buchenwald" ein. Über die Begegnung in Stuttgart und die Geschichte der Rettung berichten die Medien im In- und Ausland. Bleichers kommunistische Vergangenheit wird von nun an in der öffentlichen Diskussion keine große Rolle mehr spielen.

Schleyer kommt Bleichers Vergangenheit nun sogar gelegen. In den sechziger Jahren, vor seinem ersten Prag-Besuch nach 1945, erklärt er, wenn ihm dort wegen seiner einstigen Arbeit im besetzten Prag etwas zustoße, möge man „den Bleicher" anrufen. Der würde ihn rausholen über seine Kontakte zu früheren KZ-Häftlingen in inzwischen wichtigen Staatsfunktionen. Das klingt nach verkehrter Welt, doch sowohl Schleyers Sohn Hanns-Eberhard, der seinen Vater in die damalige Tschechoslowakei begleitet hat, als auch Heinz Dürr, Schleyers Nachfolger als Verhandlungsführer der Metallarbeitgeber im Tarifbezirk, bestätigen dies.

Willi Bleicher fährt Anfang 1964 mit Stefan Jerzy Zweig nach Buchenwald. Keine Selbstverständlichkeit zweieinhalb Jahre nach dem Bau der Mauer in Berlin. Der Stuttgarter Bezirksleiter ist (noch) vorsichtig; Er will die Reise vom IG-Metall-Vorstand absegnen lassen. Denn zu gut weiß er, dass man sie gegen ihn verwenden könnte. Doch der Vorsitzende Otto Brenner hält einen Beschluss nicht für erforderlich und erklärt seine ausdrückliche Zustimmung.

zweig
Willi Bleicher und Stefan Jerzy Zweig 1964

Bleicher nutzt die Reise zu Gesprächen mit ehemaligen Häftlingen aus Buchenwald und mit Funktionären der DDR-Gewerkschaften. Mindestens ein Gesprächsprotokoll landet auf dem Schreibtisch von Staatschef Walter Ulbricht. Die Machthaber in der DDR trauen dem widerspenstigen Marxisten nicht. Auf einer bislang unbekannten Karteikarte der Stasi wird vermerkt, dass Bleicher eine „trotzkistische Anschauung" vertrete. Trotzki war neben Lenin der wichtigste Führer der russischen Oktoberrevolution. Stalin ließ dessen Anhänger blutig verfolgen und Trotzki 1940 im mexikanischen Exil ermorden. Ebenfalls vermerkt in der Akte ist Bleichers Mitgliedschaft in der KPO. Wie die Trotzkisten galt die KP-Opposition als verräterische Gruppierung. Der junge Bleicher hatte sich zusammen mit anderen Stuttgarter Kommunisten Ende der zwanziger Jahre der KPO angeschlossen, die die von Moskau diktierte Politik nicht mitmachen wollte.

Trotzdem tritt Bleicher 1945 der KPD erneut bei. Aber er verlässt sie vier Jahre später wieder, da er ihren Kurs nicht mittragen will und da er als KP-Mann für sich keine Zukunft in der IG Metall sieht. Die Partei beschimpft ihn als Verräter. Bleicher bekennt sich dennoch weiterhin zum Marxismus. Vier Jahr später wird er, um seinen Aufstieg in der

Gewerkschaft nicht zu gefährden, SPD-Mitglied. Er hofft weiter, dass die DDR eines Tages vielleicht doch noch das bessere Deutschland werden könnte. Bei seinenBleicher und Steinkühler Besuchen im „Arbeiter- und Bauernstaat" kritisiert er mit markigen Worten den Schlendrian in den Betrieben. Parolen wie „Gemeinsam für den Sozialismus" oder „Wir machen eine Sonderschicht" lehnt er ab, da er sich nicht vorstellen könne, dass die Arbeiter „diesen Quatsch" glaubten. Er fordert echte „Arbeiterdemokratie", wie es in dem Protokoll heißt, das Ulbricht vorgelegt wird.

Franz Steinkühler, der 1972 Bleichers Nachfolger in der IG-Metall-Bezirksleitung wird, hat mit seinem Förderer mehrmals die DDR bereist. Sein Eindruck: „Bleicher hatte immer so ein Funken Hoffnung, dass da doch noch das zu finden sei, was er sein Leben lang gesucht hat, Gerechtigkeit, Sozialismus." Doch irgendwann habe auch Bleicher gespürt, „dass er vergeblich sucht".
Franz Steinkühler und Willi Bleicher in den 1950er Jahren

Beseelt vom Glauben, dass der Faschismus nicht alles sein kannWilli Bleicher

Sozialismus war für Bleicher mehr als eine Parole. Als pragmatischer Gewerkschafter trug er zwar dazu bei, den sozialen und demokratischen Charakter der Bundesrepublik zu stärken, doch seine Hoffnung auf eine „andere Welt" versperrte ihm zugleich den Blick auf diese Erfolge. Schließlich half ihm sein linker Gegenglaube beim Überleben im KZ. In Buchenwald war er sich sicher gewesen, dass nur „der Sozialismus der Ausweg sei aus der Periode der Barbarei" sei, „eine andere Welt, die die Freiheit des Menschen garantiere". Diese Hoffnung habe ihn „bestärkt und beseelt". Und dazu sei der Glaube gekommen, „dass der Faschismus nicht der Sinn dieser Welt sein könne". Das mag übertrieben, ja religiös klingen, doch ähnliche Schilderungen sind von anderen politischen Häftlingen überliefert. Insofern war Bleicher ein „frommer Kommunist".

Willi Bleicher wollte eine Welt schaffen, die den Rückfall in eine faschistische Barbarei unmöglich machte. Denn er war überzeugt davon, „dass wir unter denselben Verhältnissen und Umständen wie während der Nazidiktatur Menschen zuhauf finden würden, die zu jeder Schandtat fähig und bereit sind". Nur der Humanismus könne „für uns alle miteinander Richtschnur sein", erklärte er vor den jungen Leuten ein Jahr vor seinem Tod 1981. Im Sozialismus, so der Gewerkschafter weiter, sei „der Begriff des Humanismus am sichtbarsten umschlossen - oder es ist eben kein Sozialismus".

■ Hermann G. Abmayrs Film „Wer nicht kämpft, hat schon verloren" über Willi Bleicher wird am Sonntag, den 28. Oktober 2007, um 11 Uhr im Stuttgarter Theaterhaus erstmals gezeigt. Mit dabei sind Zeitzeugen wie Stefan Jerzy Zweig und Franz Steinkühler.

DVDDVD zum Film

Willi Bleicher: Widerstandskämpfer und Arbeiterführer
- Wer nicht kämpft, hat schon verloren


ein Filmportait von Hermann G. Abmayr,
60 min,
BR Deutschland 2007

DVD plus 12 Stunden Audio-Dokumentation:
Der Aufrechte Gang
20,00 EUR

Kontakt: Willi-Bleicher-Film@t-online.de

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