Eine wichtige Biographie - erst 50 Jahre danach
Der Historiker Walter Nachtmann und der Verleger Titus Häussermann sind zu loben: Nachtmann, weil er sich in seiner Doktorarbeit mit der umstrittensten Figur der Nazizeit in Stuttgart beschäftigt hat, nämlich mit Karl Strölin, und Häussermann, weil er in seinem rührigen Tübinger Silberburg-Verlag gerade jetzt diese fast 500 Seiten dicke Biographie herausgegeben hat. Nicht von ungefähr kommt sie (Preis 39,80 Mark) am Montag in die hiesigen Buchhandlungen. Es ist der 8. Mai 1995.
So liegt jetzt, 50 Jahre nach Kriegsende, endlich die längst fällige, fundierte Auseinandersetzung mit dem Stuttgarter Oberbürgermeister der Nazizeit vor. Und um es gleich vorweg zu nehmen: Walter Nachtmann schafft mehr Klarheit, als bisher war. Er schildert den 1890 geborenen Sohn eines Generals als "pietistisch angehauchten Offizier", der schon in den zwanziger Jahren die Ideologie der Nationalsozialisten strikt vertritt.
Zwar muss er bei den OB-Wahlen 1930 als Kandidat der NSDAP eine herbe Niederlage gegen den angesehenen Amtsinhaber Karl Lautenschlager hinnehmen, zieht jedoch in den Gemeinderat ein und wird Führer der NS-Fraktion. Nur Wochen nach der Machtübernahme wird Strölin im März 1933 als Oberbürgermeister eingesetzt, verdrängt Lautenschlager und holt 800 Parteimitglieder ins Rathaus. Als versierter Verwaltungsfachmann steigt seine Karriere bis 1938 steil an - um danach abzufallen.
Kein Zweifel, der gebildete und intelligente Karl Strölin erkannte schon Anfang der vierziger Jahre die tiefen Verstrickungen der Nazis, war früh davon überzeugt, dass der Krieg nicht zu gewinnen sei und besaß persönliche Kontakte zum Widerstand des 20. Juli 1944, insbesondere zum Leipziger Oberbürgermeister Carl Gördeler. Unstrittig ist, dass er im April 1945 die Stadt kampflos übergab und so noch Schlimmeres verhinderte. Wahr ist auch: Karl Strölin schlug den damals 40jährigen, unbelasteten Anwalt Arnulf Klett als neuen Oberbürgermeister vor.
Gleichwohl, die seit vielen Jahren strittige und zentrale Frage dieses vielschichtigen Lebenslaufes "War Karl Strölin ein Widerstandskämpfer?" beantwortet Walter Nachtmann eindeutig: "Strölin war überzeugter Nationalsozialist. Er verteidigte diese Ideen - selbst nach 1945. Nach seiner Ansicht hatten Hitler und seine Schergen den Nationalsozialismus nur verraten. Seine Rolle im Widerstand bleibt undeutlich. Zwar gab es nach dem 20. Juli 1944 bei ihm eine Hausdurchsuchung - jedoch ohne persönliche Folgen. Später wurde er als minderbelastet eingestuft."
Wichtig zu wissen: Anfang der fünfziger Jahre erstritt Strölin von der Stadt Stuttgart eine Pension. Am 21. Januar 1963 ist er gestorben. An seinem Grab auf dem Waldfriedhof sprachen Vertreter des Kyffhäuserbundes und anderer Soldatenverbände. Ein Bundeswehr-Offizier trug das Ordenskissen.
Durch Walter Nachtmanns über Jahre sorgfältig erarbeitete Biographie wird die Person Strölin deutlicher sichtbar: Ein ehrgeiziger, preußisch geprägter Offizier, der 1920 seinen Abschied nehmen muss und dies als Schmach empfindet; ein Gebildeter, der sich in seiner Doktorarbeit mit der Lage der Arbeiter und des Mittelstandes vor und nach dem Ersten Weltkrieg befasst; ein Schreibtischtäter, der sich, mit einer Elsässerin befreundet, für diesen und jenen Verfolgten einsetzt; ein Opportunist, der internationale Kontakte pflegt und versucht, die Judenverfolgung zu verdrängen, sich herauszuhalten; ein Mann, der nach dem Krieg kein Wort der Entschuldigung gegenüber den Opfern findet.
Mit dieser Biographie hat Walter Nachtmann, Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre bekannt geworden durch seine Mitarbeit am "Projekt Zeitgeschichte", ein wichtiges Kapital der Historie dieser Stadt geliefert. Dabei ist seine Arbeit keineswegs eine kalte Abrechnung mit einem Unbelehrbaren. Vielmehr schildert er eindrucksvoll den Lebenslauf eines Mitverantwortlichen, einen Menschen voller Widersprüche in schwieriger Zeit. Ein wichtiges Buch.
Thomas Borgmann